1913 Muthesius, H. - Formproblem im Ingenieurbau

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Muthesius, Hermann:

Das Formproblem im Ingenieurbau

In: Jahrbuch des deutschen Werkbundes : Die Kunst in Industrie und Handel. – 1.–12. Tsd. – Jena : Eugen Diederich, 1913

 

Die jüngst vergangene Epoche des technischen Bildens unterschied sich dadurch von allen früheren Zeiten, daß eine Zweiheit der Behandlung und der Beurteilung eingetreten war, je nachdem es sich um sogenanntes nützliches oder sogenanntes schönes Bilden handelte. Das nützliche Bilden fiel dem Ingenieur, das schöne dem Architekten zu. Vom nützlichen Bilden erwartete man keine Schönheit, im Gegenteil, es war ein feststehender Satz, daß die Konstruktionen des Ingenieurs ihrer Natur nach häßlich seien. In Fällen, wo man diese Häßlichkeit beseitigen zu müssen glaubte, wurde der Architekt herangeholt, um eine Art Maskierung vorzunehmen. Die sogenannte „ästhetische Ausbildung der Ingenieurbauten“ hat lange auf dem Programm der Zeit gestanden, wobei der Gedankengang fast immer der war, durch Anklebungen „architektonischer“ oder „ornamentaler“ Art den Ingenieurbau in das Bereich der Kunst zu heben.

Es traf sich, daß der Anruf des Ingenieurs dem Architekten zu einer Zeit zuging, als dieser selbst in einer Art Maskierungstätigkeit geschäftig arbeitete. Es war die Zeit der „Stile“, jenes halbe Jahrhundert, in dem vor allem davon die Rede war, ob ein Bauwerk in antiken, in gotischen, in Renaissance- oder in romanischen Formen gehalten sei. Der Architekt war selbst zum Bekleidungskünstler geworden und war also auch vollständig darauf eingerichtet, seine Betätigung auf die Werke des Ingenieurs zu übertragen. Er setzte vor eiserne Brücken mittelalterliche Burgentore, vor Ausstellungshallen die Wände romanischer Kaiserpfalzen, vor Bahnhofsdächer italienische Palastfassaden.

Für die große Mehrzahl der Ingenieurbauten aber nahm man die Hilfe des verzierenden Architekten noch gar nicht einmal in Anspruch. Man war der Meinung, daß sie ja bloße Nutzbauten seien und als solche die Entschuldigung ihrer Häßlichkeit für sich hätten. Auch handelte es sich angeblich um die Kosten, und für „Verzierungen“ waren bei Anlagen, bei denen scharf gerechnet wurde, die Mittel nicht vorhanden. So wurden Werkstätten und Speicher als Notbauten in irgend einer aus der billigsten Konstruktion sich ergebenden Zufallsform errichtet. Fabriken erhielten den üblichen Zuschnitt aus der Sheddachkonstruktion; Wassertürme, Windmotorenpfeiler ragten in grotesken Umrissen, an die keinerlei geschmackliche Kritik gelegt worden war, in die Luft; eiserne Brücken überspannten die Flüsse in harten Linien. Dies war der Zustand der lediglich aus der Hand des Ingenieurs entstandenen Nutzbauten, wie er durch Jahrzehnte als natürlich angesehen wurde.

Der anfängliche Entwicklungsverlauf der Ingenieurkonstruktionen war ein anderer gewesen. Die Zeit der ersten Ingenieurkonstruktionen fällt zusammen mit dem ersten organisierten technischen Unterricht, und in diesem wurden alle Schüler sowohl in der Architektur als auch in den Zweigen der Technik unterwiesen. Die technische Betätigung wurde noch als eine Einheit aufgefaßt, wie es übrigens in allen früheren Zeiten überhaupt geschehen war (die alten Baumeister bauten zugleich Paläste und Fortifikationen, Rathäuser und Wasserleitungen, Leonardo da Vinci war im selben Umfange Künstler wie konstruierender Ingenieur). In jener ersten Zeit der sich neu entwickelnden Technik – es war um die vorletzte Jahrhundertwende – wurde auch an den Ingenieurkonstruktionen eine Art architektonischer Ausbildung versucht. An den Maschinen wurden stützende Glieder in die Form dorischer Säulen gebracht (die allerdings häufig stark in die Länge gezogen wurden), die Schwungräder erhielten gotisches Maßwerk und der Dom auf der Dampfmaschine wurde als Liliput- Renaissancekuppel ausgebildet. Es ist sehr interessant, diese ersten lallenden Versuche zu beobachten, einer ganz neuen Technik formal Herr zu werden. Daß man nicht sofort zum Ziele gelangte, darf nicht wundernehmen. Die Geschichte der menschlichen Technik zeigt auf Schritt und Tritt, daß zwar die Erfindung neuer Vorrichtungen verhältnismäßig rasch und, wie es scheint, ohne Mühe vor sich geht, daß es aber den Menschen stets sehr schwer gefallen ist, für die neuen Schöpfungen die endgültige Form zu finden. Regelmäßig entsteht hier Verlegenheit. Und regelmäßig greift man zunächst auf die geläufigen Formen ähnlicher früherer Dinge. Die ersten Eisenbahnwagen waren auf Schienen gestellte Postkutschen, die ersten Dampfer waren Segelschiffe mit einer eingebauten Dampfmaschine, die ersten Lichtauslässe der Gaskronen imitierten die Wachskerze. Man bedenke, welcher Unterschied zwischen der ersten nachgemachten Postkutsche und dem heutigen D-Zugwagen liegt und zu welcher markanten Form sich der heutige Ozeandampfer, verglichen mit dem alten Segelschiff, entwickelt hat. In beiden Fällen hat es aber der Arbeit von Generationen bedurft, um zu derjenigen Form zu gelangen, die wir heute als selbstverständlich und dem inneren Wesen des Dinges entsprechend empfinden.

Auch die gotischen Schwungräder und die dorischen Balanciers der ersten Maschinen waren nur eine Aushilfs- und Verlegenheitsform. Auch hier wurde bald das Unzutreffende dieser Formgebung erkannt; man fing an, die Anleihe bei der alten Kunst zu tilgen und die sich aus dem Dinge selbst ergebende Form zu entwickeln. Dies geschah, indem man allen Zierat beseitigte und lediglich auf die sogenannte reine Zweckform zurückging. Vielleicht ahnte man damals noch nicht, daß die Erfüllung des reinen Zweckes an und für sich noch keine das Auge befriedigende Form schafft, vielmehr hierzu noch andere Kräfte, sei es auch unbewußt, mitwirken müssen. Jedenfalls entwickelte sich von allen Werken des Ingenieurs am ehesten  d i e   M a s c h i e   zu einem reinen Stil, der am Beginn des laufenden Jahrhunderts so gut durchgebildet dastand, daß es üblich wurde, die sogenannte Schönheit der Maschine zu bewundern und in ihr gewissermaßen die ausgeprägteste Erscheinung einer modernen Stilbildung zu erblicken. In modernen Kunstbetrachtungen spielt seit etwa zehn Jahren diese Schönheit der Maschine, an die sich gewöhnlich Betrachtungen über die sogenannte reine Zweckform knüpfen, eine gewichtige Rolle.

Anders als im Maschinenbau verlief die Entwicklung im  S t a b e i s e n b a u . Wenn hier anfänglich eine dekorative Ausschmückung versucht worden war, so wurde sie zwar ebenfalls bald verlassen, ohne daß man aber zu so geklärten Verhältnissen wie im Maschinenbau gelangt wäre. Der Ingenieur gab es hier so gut wie ganz auf, die Alltagsaufgaben unter dem Gesichtspunkt der geschmacklich geläuterten Form zu behandeln. Es entwickelte sich zwar eine außerordentlich rege Bautätigkeit, die Eisenbahnbrücken, die Talüberspannungen, die Bahnhofshallen, die die neue Zeit brauchte, wurden fast durchweg in eisernem Stabwerk errichtet. Allein nur in Ausnahmefällen hielt man es für nötig, etwas für das Aussehen zu tun, und in diesen Fällen wurde meistens die schon berührte Maskierung mit Fassadenmotiven der alten Architektur vorgenommen. Die ästhetische Theorie trug zur Verstärkung des hier waltenden Irrtums bei, indem sie das Schicksal der Gitterstabbauten als künstlerisch hoffnungslos erklärte. Gottfried Semper sprach sich über Eisenkonstruktionen dahin aus, daß, wer sich ihrer annehmen wolle, „einen mageren Boden für die Kunst antreffe“. Es könne nicht die Rede sein von einem monumentalen Stab- und Gußmetallstil, denn das Ideal eines solchen sei die unsichtbare Architektur, je dünner das Metallgespinst, desto vollkommener sei es in seiner Art. Das, was Semper in dieser vernichtenden Form ausgesprochen hat, ist seitdem von vielen Theoretikern in Variationen wiederholt worden. Fast stets kam man darauf hinaus, daß das Eisen zu dünn sei, um ästhetische Wirkungen herbeizuführen, ein Urteil, das unter der Voraussetzung gefällt wird, daß zur ästhetischen Wirkung unbedingt die Massigkeit gehöre. Offenbar aber liegt hier ein Trugschluß vor, indem ein Gewohnheitsideal für ein absolutes Ideal gehalten wird. Das Gewohnheitsideal ist dadurch entstanden, daß die bisherigen Generationen in Materialien bauten, die massiv wirkten, nämlich in Stein und Holz; hätten ihnen dünngliedrige Metallstäbe zur Verfügung gestanden, so würde heute wahrscheinlich die Dünngliedrigkeit als das Normale und Ideale angesehen, die Massigkeit aber als unästhetisch verurteilt werden. Es ist nicht zu vergessen, daß in unseren ästhetischen Wertungen die Gewohnheit eine ungemein große Bedeutung hat. Wie widersinnig erschien uns im Anfang das Zweirad mit den Drahtspeichen und dem Luftwulst. Niemand empfindet beides heute mehr als abnorm, und gerade die Dünngliedrigkeit der Drahtspeichen macht uns den Eindruck des Feinen und Eleganten. Es trifft überhaupt nicht zu, daß bisher nur die Massigkeit ästhetisch gute Wirkungen hervorgebracht habe. Auch bisher schon ist in den technischen Gestaltungen das Verhältnis von Stärke zu Länge dem Material entsprechend gewählt worden. In der Antike finden wir neben dem

kompakten, aus Steinblöcken gebildeten Tempel auch sogleich jene feingliedrigen Metallkonstruktionen, wie sie uns in den allerzierlichsten Bronzekandelabern und Metallmöbeln der pompejanischen Funde entgegentreten. Wollte man aber etwa sagen, die eigentliche Architektur habe es mit der Umschließung von Innenräumen zu tun, und da zu dieser Umschließung eine massige Wand gehöre, könne ein eisernes Hallendach mit Glasdeckung keineswegs als ein ästhetisch befriedigendes Werk angesehen werden, so wäre auch hier ein geschichtlicher Irrtum begangen.

Denn es war z. B. das Ideal der Hochgotik, die Wandfläche fast vollkommen aufzulösen und den Stützen eine unerhörte Feingliedrigkeit zu geben. Die großen mächtigen Felder zwischen den dünnen Konstruktionsgliedern aber wurden mit Glas ausgefüllt wie beim heutigen Hallendach, allerdings

wußte jene an künstlerischem Vermögen so reiche Zeit sogleich aus der Glaswand ein ästhetisch wirksames Motiv, das farbige Glasfenster, abzuleiten. Nichts mit Raumumschließung hat aber auf alle Fälle das  G e r ä t   zu tun, dessen Gestaltung doch auch unter dem Gesichtspunkte der Form, d. h. der Wirkung für das Auge, betrachtet werden muß. Hier liegt überdies vorzugsweise das Betätigungsgebiet des Ingenieurs, der arbeitserleichternde Werkzeuge und Maschinen bildet, Brücken, Eisenbahnen, Fahrzeuge für den Verkehr, Waffen für den Krieg gestaltet. Für das Gerät und Werkzeug die feingliedrige Gestalt als künstlerisch unwirksam zu bezeichnen, müßte aber geradezu sinnlos erscheinen. Im Gegenteil, wir bewundern eher ein feines chirurgisches Instrument wegen seiner Eleganz, ein Fahrzeug wegen seiner gefälligen Leichtigkeit, eine sich über den Fluß schwingende Stabbrücke wegen ihrer kühnen Materialausnutzung. Und mit vollem Recht, denn wir konstatieren in der Sehnigkeit der schlanken Teile einen Sieg der Technik, die sich hier zu einer bis an die letzte Grenze gehenden Meisterung des Stoffes emporgeschwungen hat. Also die Dünngliedrigkeit des Eisens kann der ästhetischen Wirkung der Erzeugnisse des Ingenieurs nicht im Wege stehen.

Hier irren die Gedankengänge der ästhetischen Spekulation.

 

Im übrigen ist es gar nicht die Aufgabe der Ästhetik, Voraussagen zu machen. Fast immer, wenn sie es getan hat, ist sie fehlgegangen. Die Ästhetik hat nur zu registrieren, einzuordnen, nicht Schlüsse a priori sondern a posteriori zu ziehen. Mit Gesetzen für die zukünftige Entwicklung ist sie niemals imstande, dem rastlosen Weiterschreiten Fesseln anzulegen. Die Entwicklung geht gewissermaßen ins Unbestimmte hinein, und es bleibt der Ästhetik lediglich vorbehalten, den Weg, den sie genommen hat, rückschauend zu verfolgen.

Alle Voraussetzungen einer künstlerischen Wirkung der Werke des Ingenieurs geschehen jedoch – und jetzt erst treten wir in das eigentliche Wesen der Sache ein – unter dem Vorbehalte, daß in ihnen künstlerisches Gefühl niedergelegt sei. So selbstverständlich dieser Satz klingt, so sehr muß er betont werden. Die Vorstellung, es genüge für den Ingenieur völlig, daß ein Bauwerk, ein Gerät, eine Maschine, die er schafft, einen Zweck erfülle, ist irrig, noch irriger ist der neuerdings oft gehörte Satz, daß, wenn sie einen Zweck erfülle, sie zugleich auch schön sei. Nützlichkeit hat an und für sich nichts mit Schönheit zu tun. Bei der Schönheit handelt es sich um ein Problem der Form und um nichts anderes, bei der Nützlichkeit um die nackte Erfüllung irgend eines Dienstes. Ein schöner Gegenstand kann allerdings auch zugleich nützlich, ein nützlicher zugleich schön sein. Festzuhalten, als für unsern Gegenstand ausschlaggebend, ist hier allein der Satz, daß die Schönheit der Nützlichkeit nicht im Wege zu stehen braucht. Das Schöne mit dem Nützlichen zu verschmelzen, und zwar bis zu einer möglichst restlosen Erfüllung beider Forderungen ist, wie bekannt, die eigentliche Aufgabe der Architektur. Aber es wäre ganz verfehlt, anzunehmen, daß diese Aufgabe außerhalb der Architektur nicht bestehe. Im Gegenteil, man muß völlig verallgemeinern und sagen, daß die gesamte werkzeugbildende, bauende und konstruierende Tätigkeit des Menschen, ja alles was er überhaupt sichtbar tut und treibt, denselben Grundsatz im allgemeinen Sinne verfolgt wie die Architektur im besonderen, nämlich den, das Nützliche mit dem Schönen zu vereinigen.

Bei allem sichtbaren Gestalten dirigiert uns Menschen die Rücksicht auf die Erscheinung in einem Maße, daß wir diese Rücksicht gar nicht hinwegzudenken vermögen. Unser Auge ist der ständige Kontrolleur dessen, was wir sichtbar tun, wobei wir die Form nach einem unserm Gehirne eingepflanzten Gesetze bilden, beurteilen und handhaben. Dieses Gesetz wirkt selbsttätig, wir können uns ihm nicht entziehen, selbst wenn wir es wollten. Auch bei den Dingen, die ausgesprochenermaßen ein Bedürfnis erfüllen, leitet das Schönheitsempfinden die Hand. Die Anproben bei unserem Schneider haben sicherlich nicht den Zweck, den Anzug so warmhaltend wie möglich zu machen, sondern sie wollen ihm die denkbar beste Form geben. Ist das schon beim Männeranzug der Fall, so tritt beim Frauenanzug offensichtlich der Nutzzweck vor dem Schönheitszweck fast vollständig zurück. Dieselben Grundsätze verfolgen wir fast automatisch bei unserer Wohnung, bei der ein Ausschalten der Geschmacksrücksichten gar nicht denkbar wäre. Niemand wird hier auf die Idee verfallen, daß die Nützlichkeit allein die gestaltende Tendenz sei. Aber auch in anscheinend ganz fernliegenden Dingen spielt die Form noch ihre Rolle. Man frage nur einen Zigarrenfabrikanten, welch große Bedeutung die äußere Gestalt der Zigarre, die sich doch mit dem Zweck des Dinges und der „Qualität“ gar nicht berührt, für den Verkauf hat. Offensichtlicher spricht die Form mit bei den Geräten, Möbeln und Werkzeugen. Sicherlich werden sie gebaut, um einem Zwecke zu dienen, eine Arbeit zu verrichten. Ihre Form ergibt sich aber durchaus nicht allein aus diesem Gesichtspunkte. Selbst den Fall angenommen, daß lediglich der Gebrauchszweck vorgeschwebt

hätte, so läßt sich doch behaupten, daß den Verfertiger, sei es auch nur aus einem von ihm selbst nicht gefühlten ästhetischen „Unterbewußtsein“ heraus, auch die Rücksichten auf die Form mitbeeinflußt haben. Denn das, was wir beim Betrachten des Werkzeuges als ästhetisch gut empfinden, ist eben nur das Resultat jenes in der Stille beim Verfertiger wirksam gewesenen Instinktes für die Form. Auf solche Weise haben Generationen an unseren Geräten, Instrumenten, Werkzeugen, Innenräumen und Häusern stilbildend und formfördernd gewirkt, auch wenn nicht eine bestimmte Absicht hierfür vorgelegen hat. Die heutige vollendete Form der Violine, die suggestiven Linien des Segelbootes, die trauliche Schönheit des Bauernzimmers, die harmonische Gruppierung des ländlichen Wirtschaftshofes: sie sind aus solcher Arbeit von Zeitaltern entstanden und durch Jahrhunderte zu der heutigen Vollkommenheit der Form entwickelt. Und alle diese Bildungen sind außerhalb dessen, was wir „Kunst“ nennen, vor sich gegangen, eben der beste Beweis dafür, daß es einer bewußten künstlerischen Absicht beim Menschen gar nicht bedarf, um im Endresultat doch ästhetisch gut wirkende Erzeugnisse hervorzubringen, daß wir Menschen uns eben der Tendenz, gefällig und geschmackvoll, d. h. ästhetisch wirksam zu gestalten, gar nicht entziehen können. Doch muß hier allerdings sofort zugegeben werden, daß diese Tendenz sich bei verschiedenen Menschen in sehr verschiedenem Grade äußert, mit andern Worten, daß die Begabungen der Menschen nach der geschmacklichen Seite sehr verschieden sind. Neben solchen, die bei allem, was sie tun und treiben, von einem ausgeprägten Formgefühl geleitet werden, die sich geschmackvoll kleiden, in wohlausgestatteten Räumen leben, nur ästhetisch schöne Dinge kaufen und verschenken, gibt es Menschen, die unsicher, ja unfähig sind, einen guten Geschmack zu betätigen. Jeder wirkt nach seinem Vermögen. Dennoch steht es fest, daß ein Gefühl für Schönheit jedem von uns mitgegeben ist und daß dieses Gefühl für Schönheit gar nicht vom menschlichen Fühlen, Denken und Handeln getrennt werden kann.

Von diesem Standpunkte aus erfährt die Frage, ob Ingenieurbauten ästhetisch schön wirken könnten, sollten oder müßten, eine ganz andere Beleuchtung. Die Forderung der ästhetisch guten Wirkung wird zur blanken Selbstverständlichkeit. Ja man muß sich erstaunt fragen, wie es denn eine Zeit habe geben können, bei der man bewußt die gute Form als entbehrlich zu bezeichnen wagte. Der Ingenieur, der dies täte, würde eines der Grundgesetze des menschlichen Handelns verneinen, er würde unmenschlich, widernatürlich handeln. Als Anteil der menschlichen Gesamtschöpfung unterliegen die Bauten des Ingenieurs denselben Gesetzen, die wir bei andern, zum Teil weit minder wichtigen Dingen erfüllt finden. Ihre große Bedeutung im heutigen Bauwesen, ihre meist wichtige Stellung im Städte- und Landschaftsbilde, die enormen wirtschaftlichen Werte, die in ihnen niedergelegt werden, verlangen sogar gebieterisch, daß auch bei ihrer Gestaltung dem Gesichtspunkt der guten Erscheinungsform Rechnung getragen wird.

Die bisherige Entwicklung der Ingenieurbauten, wie sie aus sich selbst heraus, d. h. ohne die falsche Maskierungsarbeit des Architekten, erfolgt ist, beweist uns übrigens auch, daß eine Klärung nach der guten Form hin bereits stattgefunden hat. Eine große Anzahl von Ingenieurwerken, Brücken,

Bahnhofshallen, Leuchttürmen, Silobauten wirken ästhetisch gut, gleichgültig, ob hier das Schönheitsgefühl der Erbauer unbewußt mitgesprochen und sich über den Rechenstab hinaus Geltung verschafft, oder ob der eine oder der andere Ingenieur bewußt um die gute Form gerungen und sie erreicht hat.

Was bisher vielleicht hier und da unbewußt getan worden ist, muß in Zukunft unbedingt bewußt und konsequent geschehen. Es gibt nur e i n menschliches Gestalten. Genau dieselben Gestaltungstendenzen kehren wieder beim Kunsthandwerker, beim Architekten, beim Ingenieur, beim Werkzeugverfertiger, beim Schneider, bei der Putzmacherin, beim simpeln Handwerker, bei der Mutter, die ihrer Kleinen ein Kleid zurechtschneidert. Es handelt sich immer um die gleichen Dinge: gute Proportionierung, Abstimmung der Farben, wirkungsvollen Aufbau, Rhythmus, ausdrucksvolle Form. Die Tendenzen, die bei allen diesen Gestaltern wirken, sind allgemeiner, sozusagen kosmischer Art, sie sind unserer Gehirntätigkeit immanent.

Hieraus wird es zur vollen Selbstverständlichkeit, daß ein Schaffender, der so große Aufgaben zu bewältigen hat wie der Ingenieur, der Bauwerke erzeugt, die uns auf Schritt und Tritt begegnen und an absoluter Größe alles überbieten, was bisher geleistet ist, unbedingt diese Gesetze nicht nur

unbewußt wirken lassen, sondern sie bewußt befolgen muß. Einen Unterschied zu machen zwischen Werken der Architektur und des Ingenieurbaues ist sinnlos. Die Ingenieurwerke entstehen gerade so wie die Werke des Architekten aus dem Wunsche, ein Bedürfnis zu decken. Auch bei ihnen ist wie bei den Werken des Architekten in allererster Linie ein Nützlichkeitsprogramm zu erfüllen, und die Erfüllung dieses Programms bildet den Ausgangspunkt der Gestaltung. Aber die Durchbildung selbst findet dann sofort unter dem ständigen kontrollierenden Einfluß des Schönheitsempfindens statt, das dahin strebt, das Unharmonische harmonisch zu machen, das Störende zu beseitigen, das Fehlende zu ergänzen und das so einen höheren Ordnungssinn darstellt, der unsere Leistungen erst zur menschlichen Arbeit im höheren Sinne erhebt. Nützlichkeits- und Schönheitsgesichtspunkte arbeiten hier wie dort von Anfang an ineinander. Sie müssen bei der ersten Konzeption beide zur Stelle sein und sich in Gleichgewicht zu setzen suchen, wenn ein vollgültiges menschliches Werk erzeugt werden soll.

Der Ingenieur alten Schlages pflegte einzuwenden, daß für ihn die Statik allein maßgebend sei und er sich als wissenschaftlich und ökonomisch denkender Mensch keineswegs durch irgendwelche anderen Rücksichten von der mathematisch gegebenen Konstruktion, die zugleich beim sparsamsten Materialverbrauch den größten Nutzeffekt darstelle, abbringen lassen könne. Dieser Einwand ist hinfällig, so einleuchtend er von dem stets überzeugungsfähigen, kraß utilitaristischen Standpunkte aus erscheinen mag. Denn die Verhältnisse liegen meist so, daß es gleichzeitig mehrere mathematisch richtige Lösungen gibt, unter denen er wählen kann. Auch für den Ingenieur führen viele Wege nach Rom; die Richtungen, in denen er auch rein mathematisch eine Aufgabe verfolgt, können von Anfang an ganz verschiedene und sehr mannigfaltige sein. Es liegt nahe, diejenige zu wählen, die außer der Statik auch dem Auge gerecht wird. Und sodann steht, wie schon erwähnt, die Schönheit der Nützlichkeit nie grundsätzlich im Wege. Auch bei der schönen Form kann der höchste Effekt mit den geringsten Mitteln erreicht werden. Nicht anders ist es bei allen technischen Aufgaben, vor allem auch bei denen, die dem Architekten gestellt werden. Der Unterschied ist nur der, daß die Schönheitsanforderungen der Architektur aus Zeiten auf uns gekommen sind, in denen der Sinn für das Rhythmische und Harmonische beim Menschen noch selbstverständlich war, so selbstverständlich, daß, eine besondere Forderung daraus zu erheben, ein Unding gewesen wäre. Die ästhetische Bewegung der letzten fünfzehn Jahre hat infolge der ihr innewohnenden lebendigen Kraft weit über die Grenzen des ursprünglich kunstgewerblichen Gebietes hinausgegriffen. Sie fängt wieder an, unser ganzes Leben zu beherrschen. Große Ödlände, die durch jahrzehntelange Vernachlässigung fast unfruchtbar geworden waren – man denke nur an den Städtebau – sind neu aufgerodet und mit frischem Leben durchtränkt worden. Heute kann die Erkenntnis als soweit vorgeschritten gelten, daß wir den Satz aufstellen können: Sondergebiete des menschlichen Schaffens, bei denen die Form vernachlässigt werden könne, gibt es nicht. So wollen wir hoffen, daß die bewußte, aus den Bedingungen des Baues selbst entwickelte gute Form auch auf dem weiten Gebiete des Ingenieurbaues als Selbstverständlichkeit angesehen und als unerläßliches Attribut einer veredelten, der Höhe unserer Zeit entsprechenden Gestaltungsarbeit betrachtet werden wird.