1909 Goesch, Heinrich - Architekturgeschichte

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Die Stellung der Architekturgeschichte zum Schaffen des Architekten (1909)

von Dr. HEINRICH GOESCH (1880–1930)

 

I.

Wenn uns der ungeheure Unterschied der architektonischen Physiognomie des neunzehnten Jahrhunderts und etwa eines Jahrhunderts gotischer oder Renaissancebaukunst vor das Bewusstsein tritt, so müssen wir gestehen, dass ein bauliches Schaffen wie das der jetzt abklingenden Zeit nicht möglich gewesen wäre, wenn es keine Architekturgeschichte gäbe. Mag also, wie man nicht bezweifeln darf, die Architekturgeschichte eine wertvolle Gabe der Kultur sein, die mächtigen Wirkungen, welche diese Wissenschaft unter gewissen Umständen auf die künstlerische Tätigkeit auszuüben vermag, zwingen den Architekten, wenn er sich nicht blindlings treiben lassen will, frühzeitig die richtige Stellung zu der Geschichte seiner Kunst zu erringen.

Ich will hier vier Typen des Verhältnisses baukünstlerischen Schaffens zur Architekturgeschichte als diejenigen herausheben, zwischen denen wir hauptsächlich zu wählen haben. Entweder die Architekten geben über die Befriedigung des nackten Bedürfnisses hinaus nur solche künstlerische Gestaltung, welche sie unberührt von der Kenntnis andrer Kunstwerke aus ihrem eignen Vermögen schöpfen. Es sei uns gestattet den so charakterisierten Typus, der allerdings mehr auf dem Programm irregeleiteter Theoretiker als in der Wirklichkeit der Praxis zu finden ist, im Folgenden als Neuschaffungstypus zu bezeichnen. Oder man verschafft sich die Kenntnis einer vorangegangenen Kunstepoche und übernimmt deren Gestaltungen als selbstverständliche Grundlage des eignen Schaffens, welches sich dann als ein Weiterbilden schon vorhandener Kunst darstellt. So schufen z. B. im Wesentlichen die Meister der Gotik, welche die romanische, die Meister des Barock, welche die Renaissancekunst fortsetzten. Diesen Typus wollen wir Anknüpfungstypus nennen. Oder drittens die Architekten machen sich mit der Geschichte ihrer Kunst vertraut und werden dann von der Schönheit irgendeiner frühern Epoche so angezogen, dass sie deren Stil nachzuahmen unternehmen. Hier dringt also der Einfluss der Architekturgeschichte in das Zentrum der künstlerischen Betätigung, zerstört das eigne freie Schaffen und setzt an seine Stelle ein außerkünstlerisches Ziel, nämlich das der historischen Treue. So tat man im neunzehnten Jahrhundert, so tat man aber auch schon in jenem andern stark historisierenden Zeitalter des Humanismus, in welchem die Renaissance als Nachahmung antiker Bauwerke ihren Anfang nahm. Der so beschriebene Typus sei als Wiederbelebungstypus bezeichnet. Oder endlich viertens der Künstler erwirbt sich zwar auch eine mehr oder weniger umfangreiche historische Bildung, verwendet sie aber ausschließlich zur Ausbildung seines eignen Geistes, ein Vorgang, den wir später noch in seinen Einzelheiten aufzuklären haben werden. Dies sei der Bereicherungstypus.

Der erste der vier angeführten Typen glaubt also, am besten der Architekturgeschichte überhaupt entraten zu sollen (Neuschaffungstypus). Der Zweite braucht die Kenntnis einer einzelnen historischen Epoche als Ausgangspunkt für das eigne Schaffen (Anknüpfungstypus). Der dritte erhält durch die Architekturgeschichte seinen wesentlichen Inhalt (Wiederbelebungstypus). Der vierte endlich bedient sich ihrer nur gelegentlich als eines der Mittel zur Erreichung seiner eignen Ziele (Bereicherungstypus). Bei der Wahl zwischen diesen vier Möglichkeiten ist die Entscheidung bisher nicht so unbedingt und ausschließlich zugunsten der vierten gefallen, wie es schon nach unsrer bloßen Anführung anzunehmen sein sollte. Wir wollen daher in eine Darstellung des Wertes und Unwertes der einzelnen Standpunkte eintreten.

Über die erste Möglichkeit, gerade ohne Studium andrer Kunstwerke reine künstlerische Leistungen hervorzubringen (Neuschaffungstypus), können wir schnell hinwegeilen. Die großen Werke der Architektur vereinigen wie die jeder andern Kunst eine solche Fülle künstlerischen Ausdrucks in sich, ihre Wurzeln liegen so weit verzweigt und reichen zu so tiefen Quellen hinab, dass es selbst dem Genie nur durch die Zusammenfassung der Arbeit vieler Geister möglich wird, seine Blüte zu entfalten und jene dann allerdings als völlig neue Offenbarung erscheinenden Werke hinzustellen. Dieselbe Kraft, die, durch richtige historische Bildung bereichert, den Meisterwerken der Vergangenheit ein Ebenbürtiges, Modernes zur Seite stellen würde, muss ohne diese Belehrung in den Anfangsgründen der Kunst einen vergeblichen Kampf mit dem spröden Stoffe führen. Wo aber ein nach dem Neuschaffungsstypus unternommener Versuch nicht gänzlich in den Grenzen der Rohheit verharrt, kann man mit Sicherheit die allerdings kaum zu vermeidende unbewusste Nachwirkung der bisherigen Kunst aufdecken. Nur dadurch, dass uns als Erfolg historischer Studien so oft tote Nachahmung und hoffnungslose Sklaverei entgegentritt, wird es begreiflich, dass ein Künstler es unternimmt, sich des in der Geschichte aufgehäuften Kulturgutes der Menschheit willkürlich zu berauben. Gelingt es aber allmählich immer mehr, die Architekturgeschichte für das eigne künstlerische Schaffen wirklich fruchtbar zu machen, so wird damit das Bestreben, sie lieber zu entbehren, von selbst verschwinden.

Im Gegensatz zu der eben behandelten Möglichkeit umgibt den zweiten Typus, den der Anknüpfung, der Schein einer viel größeren Berechtigung, und es stehen ihm glücklichere Erfolge zur Seite. Bei ihm lebt sich der Architekt zunächst in das Schaffen einer Kunstepoche ein, und zwar vollzieht sich dieser Vorgang entweder auf natürliche Weise, wenn es sich um die unmittelbar vorhergehende und den jungen Architekten noch umgebende Bautätigkeit handelt, oder auf mehr künstlichem Wege, wenn sich der Schaffende, sei es durch Fähigkeit und Neigung, sei es aus theoretischen Gründen, zu einer weiter zurückliegenden Gruppe von Werken hingezogen fühlt. Sind dann dem Architekten durch einen solchen Prozess die Äußerungsformen der betreffenden Zeit zur selbstverständlichen Gewöhnung geworden, so spielt sich sein eignes Schaffen in dem Rahmen einer persönlichen Weilerbildung der zunächst als Ganzes herüber genommenen Kunst ab. Die Vorteile, welche das Anknüpfungsverfahren bietet, sind groß. Durch mühelose Zugrundelegung vorhandener künstlerischer Werte hebt der Künstler scheinbar sein Schaffen auf eine hohe Stufe, selbst wenn keine Weiterbildung der herüber genommenen Kunst, ja nicht einmal eine persönliche Stellungnahme zu den einzelnen Kunstmitteln stattgefunden hat; und das so entstandene Werk wird jedenfalls nennenswerte Schönheiten in sich vereinigen. Ferner kann der nicht durch das Studium der mannigfachen und schwer zu vereinigenden historischen Erscheinungen hin und her gezogene und innerlich nicht zerrissene Geist alle seine Kraft einem freien künstlerischen Schalten zuwenden. Er befindet sich gegenüber dem, der von dem Baume der historischen Kenntnis gekostet hat, gewissermaßen in dem Stande der Unschuld und besitzt die ganze Stärke, die diese verleiht.

 

Und trotz alledem müssen wir die Idee, es sei das richtigste, an irgendeine Kunstepoche anzuknüpfen, zu den verhängnisvollsten Irrtümern rechnen, welche jemals das Leben der Architektur vergiftet haben. Bei der Behandlung früherer unhistorischer Zeiten müssen wir selbstverständlich die Tatsache der Anknüpfung als etwas Gegebenes hinnehmen, mit dem wir uns ebenso wie mit jeder andern in den Zeitumständen mit Notwendigkeit begründeten Unvollkommenheit abzufinden haben. Wenn z. B. Michelangelo, der doch in den Gebälken statt der überlieferten Führung und Profilierung seinen eignen Geist gab, die Säule mit Basis und Kapitäl noch als Ganzes herüber nahm, so bleibt in seinem Kunstwerk eben an dieser Stelle eine Unstimmigkeit bestehen, die nur durch den Glanz seiner andern großen architektonischen Erfindungen überstrahlt wird. Diese Sachlage scheint jenen entgangen zu sein, die heutzutage die Not von ehemals als Tugend propagieren. Durch eine solche Anknüpfung glaubt man, dem künstlerischen Schaffen des einzelnen eine geeignete Grundlage geben zu können. Nun besitzt aber die Architektur wie jede andre Kunst bereits ihrem Wesen nach eine von vornherein festliegende Grundlage, welche man nie verfälschen wird, ohne sich damit vom wahren Kunstschaffen zu entfernen. Wie in der bildenden Kunst diese Grundlage in dem Verhältnis des Kunstwerkes zur Natur besteht, so besteht sie für die Architektur in dem Verhältnis des Bauwerks zum Leben. Diese Grundlage der Architektur bedarf eine nähern Aufklärung, welche wir durchweg an der Hand des bereits angeschlagenen Parallelismusses mit der bildenden Kunst geben werden. Wie uns der bildende Künstler in seinem Werke immer auch eine anschauliche Vorstellung von einem Stück der Natur gibt, so steht der Architekt mit seinem Kunstwerk immer zur gleichen Zeit als ein Handelnder im Leben. Wie jener die Schönheiten der Natur entschleiert, so gestaltet dieser durch seine Formen die mannigfachen Zwecke des Lebens, denen er dient. Wie der bildende Künstler immer wieder auf die Natur als seine wahre Lehrmeisterin hingewiesen wird, so sind für den Architekten die immer wieder neu entstehenden Bedürfnisse des Lebens die nie versiegende Quelle seiner Gestaltungen.

Wie sich die bildende Kunst von der Photographie oder dem Abguss dadurch unterscheidet, dass das Verhältnis des Kunstwerks zur Natur nicht ein wissenschaftliches, sondern ein künstlerisches ist und der Gestaltung von Gefühlen dient, so ist bei einem Bauwerk das Verhältnis zu dem Bedürfnisse nicht das der praktischsten und ökonomischsten Befriedigung desselben wie beim bloßen Nutzbau, sondern es soll die Zweckbestimmung nur zur Grundlage einer dem Gefühle gemäßen Gestaltung werden.

Es sei übrigens nebenbei bemerkt, dass wir uns mit diesen Ausführungen keineswegs auf die Seite jener Theoretiker stellen wollen, welche lehren, dass mit dem künstlerischen Ausdrucke der Zweckbestimmung eines Gebäudes schon das Wesen der Architektur erfüllt sei. Wir behaupten nur im Gegensatze zu den einseitig idealistischen Lehrern, dass die Architektur immer von der Gestaltung von Zwecken auszugehen habe, während wir sehr wohl mit letztern darin übereinstimmen, dass es auch im Architektonischen eine über die künstlerische Zweckgestaltung noch hinausgehende reine Kunstsphäre gibt, welche nicht mehr vom Zwecke aus verstanden werden kann. Hierher gehört, um das Gesagte durch ein berühmtes Beispiel zu verdeutlichen, die ergreifende Wirkung, die von der gänzlich von allen Zwecken losgelösten Wandbehandlung im Treppenhause der Laurentiana in Florenz ausgeht. Aber auch an dem einfachsten schönen Wohnhause können sich solche Elemente nachweisen lassen.

Diese durch das Voranstehende wohl hinreichend gekennzeichnete notwendige Grundlage der Architektur wird nun beim Anknüpfungstypus aus allerdings begreiflichen Gründen durch einen als Ganzes herüber genommenen Formenkomplex erweitert. Das Kunstwerk enthält jetzt also nicht nur diejenigen Schönheiten, die durch das natürliche künstlerische Schaffen auf Grundlage der zu verwirklichenden Zwecke entstanden sind, sondern neben diesen die aus einer heterogenen Quelle stammenden Schönheiten jener herüber genommenen Ausdrucksmittel. Mag also das Werk auf den ersten Blick und für den weniger feinfühligen Betrachter eine ziemlich hohe Kunststufe verkörpern, in Wirklichkeit besteht ein Zwiespalt zwischen den beiden in dem Kunstwerk willkürlich vereinigten Gebieten. Fühlt man die von dem Kunstwerke ausgehenden Wirkungen bis ins Letzte durch, so sucht man vergeblich nach einem einheitlichen Geiste, aus welchem sie hervorgegangen sein könnten. Gelingt es uns dort, einen solchen zu konstruieren, so ist es ein extravaganter und extrem bizarrer. Dieser bizarre Charakter steht dann aber regelmäßig in ungelöstem Widerspruch zu Einzelheiten des Kunstwerks, und in der Tat ist er ja auch nicht die Wirkung einer bewussten Kunstabsicht, sondern er verdankt seine Entstehung lediglich einem nicht in allen Teilen künstlerischen Schaffen. Vielfach empfindet der Architekt selber diese Bizarrerie, gestaltet sie und liefert uns so gewissermaßen Karikaturen früherer Bauweisen, eine Gattung, für die das interessante neue Stadthaus in Bremen als Beispiel dienen kann. So stellt sich also das Unternehmen, einem Werke durch Herübernahme ganzer Formenkomplexe eine bestimmte Kultur zu geben, als ein Manöver heraus, das von der wohlmeinenden Absicht, unserm Volke möglichst schnell zu einer Kunst zu verhelfen, in Szene gesetzt, in Wirklichkeit, wie es das wahre Kunstschaffen verfälscht, auch zu im letzten Sinne unkünstlerischen Ergebnissen führt. Das Herübergenommene verliert natürlich seine Schönheit nicht, aber es schlägt dem neuen Kunstwerk durch die Zerstörung seiner Einheit eine unheilbare Wunde.

Man wird gegen unsre Darstellung einwenden, dass wir nur die Herübernahme unverstandener Formenkomplexe im Auge hätten, während eine richtige Anknüpfung gerade zur Voraussetzung habe, dass jene Formenkomplexe verstanden seien. Hier bleibt der Begriff "verstehen" problematisch. Wir haben angenommen, dass sich der anknüpfende Architekt wirklich in die Ausdrucksformen der betreffenden Kunst einlebt und dass sie ihm zu ganz selbstverständlichen Ausdrucksformen werden. Hiermit glauben wir dasjenige getroffen zu haben, was man in der Regel mit dem Verstehen fremder Formen meint, und was tatsächlich geübt und insbesondere auch für den Unterricht gefordert wird. Nur wenn ein wirkliches ästhetisches Verstehen vorliege, würden allerdings unsre Ausstellungen hinfällig werden. Worin ein solches ästhetisches Verstehen beruht, werden wir später auseinanderzusetzen haben. Soviel ist aber schon jetzt klar, dass aus wirklichen ästhetischen Verständnis die Herübernahme noch so wohl verstandener ganzer Formenkomplexe in ihrer Gesamtheit niemals resultieren kann, durch welche sich doch gerade die Anknüpfung von einer freien Verwertung der Geschichte unterscheidet. Denn so uninviduell und so unmodern ist doch wohl keiner der jetzt schaffenden Architekten, dass er sich mit einer solchen Menge architektonischer Ausdrucksmittel einer ganz bestimmten und stark charakterisierten Zeit solidarisch erklären könnte und dahingegen die in ein ähnliches Gebiet gehörenden Ausdrucksformen aller übrigen Stile ignorieren müsste. Es bleibt für einen derartigen Vorgang nur die Erklärung, dass der betreffende Architekt sich an bestimmte Ausdrucksformen als selbstverständliche Sprache gewöhnt hat, ein wirkliches ästhetisches Verständnis derselben aber nicht besitzt. Eine selbstverständliche Sprache ist jedoch dem, was wir von der Kunst erwarten gerade diametral entgegengesetzt.

Neben dem prinzipiellen Grunde, der von vornherein das Ideal der Anknüpfung zerstört, nämlich dem der mangelnden künstlerischen Einheit, stehen noch weitere Schäden, welche auch zu demjenigen sprechen müssen, der uns in der Ausbildung der Feinfühligkeit nicht so weit folgen will. Bei einer solchen Anknüpfung, besonders wenn sie mehrmals nacheinander am selben Strange stattfindet, wie z. B. von der Renaissance zum Barock, zum Rokoko oder entsprechend in den mittelalterlichen Stilen, erfolgt die Fortbildung der Kunst im wesentlichen in nur einer Reihe. Die Entwicklung der Kunst ist nun aber derart, dass sich in ihr mit dem Fortschritt in einer Hinsicht notwendig zunächst ein Stillstehen oder ein Zurückgehen in irgendwelchen andern Hinsichten verbindet, eine Tatsache, die in der Enge des menschlichen Geistes psychologisch begründet ist und uns gleicherweise in allen andern Künsten entgegentritt. Würde man die Entwicklung an dieser Stelle mit historischem Ueberblick weiterführen, eine Schaffensart, die uns später ausführlich beschäftigen wird, so müßte es dem Architekten darauf ankommen, nach der Errungenschaft einer ausdrucksvolleren Linienführung eine durchgeistigtere Massenverteilung mit ihr zu verbinden. Verfährt der Architekt jedoch als Anknüpfender, so fällt, um bei unserm Beispiel zu bleiben, die zu seiner Zeit nicht geübte Massenbehandlung völlig aus seinem Gesichtskreis. Er wird nur irgend etwas aus dem Gebiete der Linienkunst weiterbilden, und so gerät die Kunst allmählich immer mehr in Verödung auf dem Gebiete des künstlerisch Beherrschten und auf allen übrigen Gebieten in ihr Korrelat, die Verwilderung.

 

II.

Mußten wir bei dem Anknüpfungstypus wegen des aktuellen Interesses, das ihn umgibt, länger verweilen, so können wir den Wiederbelebungstypus desto kürzer behandeln, da die Zeit über ihn bereits gerichtet hat.

Der Wiederlebungstypus charakterisiert sich durch folgende Züge: Der Architekt beschäftigt sich mit der Geschichte seiner Kunst und sucht in ihr solche Werke auf, die ihm das Ideal, das er in sich trägt, zu verwirklichen scheinen. Durch diese Werke wird er so angezogen und ihre Vollkommenheit überwältigt ihn so, dass er darauf verzichtet, von sich aus einen eignen Weg zur Schönheit zu finden und als Ziel alles seines Schaffens die Wiederverwertung jenes Idealbildes erblickt, das ihn betört hat. Auch ein solcher Standpunkt weist noch gewisse Vorzüge auf, da sich ihm gerade feinsinnige sympathische Persönlichkeiten, welchen nur das Gran Brutalität oder Mitleidslosigkeit mangelt, das zur wahren Größe erforderlich ist, gern anschließen. In den so entstandenen Werken waltet eine von den Kämpfen und der Zerrissenheit des Schaffenden nichts wissende allerdings etwas bleichsüchtige Abgeklärtheit, die aber doch für den weitherzigen Betrachter einen sentimentalen Wert darstellt, der ihn bereichert. Indessen bleibt jedenfalls die Tatsache bestehen, dass in diesem Sichanheimgeben der Künstlers an eine fremde Macht, die er mehr verehrt als seine eigne Muse, der Nerv des wahren Schaffens getötet und das Gebiet der Kunst verlassen wird. Nur scheinbar bringt ein solcher Architekt Werke hervor, die seinen Vorbildern ähneln. Entstanden jene im Anschluss an die lebendigen Bedingungen der Kunst als Ausdruck des Geistes ihrer Urheber, so führen diese ein Schattendasein, welches einer Grundbedingung der Schönheit jener, und der architektonischen Schönheit überhaupt, nämlich des natürlichen Hervorgewachsenseins aus dem Leben entbehrt. In der Geschichte der Architektur ist dann dementsprechend an den historisierenden Epochen nicht dasjenige von Wichtigkeit, was jeweilig als Nachbildung des Frühern unternommen wurde und worauf sich das Interesse des Architekten allein richtete, sondern nur das, was meistenteils unbewusst neu hinzugetan wurde. Das lehrt z. B. die Renaissance, deren Beziehungen zur Antike für uns heute ziemlich unwesentlich geworden sind, während sie damals im Mittelpunkte des Interesses standen. Und wenn uns jetzt manche gräzisierenden Werke, wie z. B. das Brandenburger Tor in Berlin, ein großes Interesse abgewinnen, so sind die betreffenden Werke nicht durch die Wiederbelebung entstanden, sondern trotz derselben.

Ehe wir den hier beschriebenen Wiederbelebungstypus verlassen, wollen wir noch gewisse Erscheinungen berücksichtigen, von denen es zweifelhaft sein kann, ob sie zu diesem oder dem vorher behandelten Anknüpfungstypus gehören. Ein durch natürliche Anknüpfung entstandenes Bauwerk kann niemals mit einem durch Wiederbelebung hervorgerufenen verwechselt werden. Bei der künstlichen Anknüpfung wird jedoch diese Unterscheidung schon schwieriger, denn bei ihr handelt es sich immer zu gleicher Zeit um eine Wiederbelebung. Hier kann nur die Baugesinnung, welche sich ja unzweifelhaft in den Werken widerspiegelt, das Kriterium abgeben. Ein heutiger Architekt, der ziemlich getreu das Empire nachbaut, ohne dass es ihn treibt, das Einzelne zu etwas immer vollkommnerem Neuen umzubilden, fällt tatsächlich unter den Wiederbelebungstypus und ist insofern um nichts besser als der Renaissancist von 1850. Nur wer die Anknüpfung an das Empire lediglich als Sprungbrett benutzt, gehört dem Anknüpfungstypus an. Wir haben die drei Typen des Verhältnisses des künstlerischen Schaffens zur Architekturgeschichte, welche am weitesten verbreitet sind und zu allen Zeiten mit den stärksten Gründen verteidigt wurden, abweisen müssen. Was hat nun die Moderne, deren Interpreten wir in diesem Aufsatze sein möchten, an ihre Stelle zu setzen? Gibt es wirklich neben den abgelehnten Möglichkeiten noch einen besondern Typus, der, wie wir eingangs angeführt haben, darin bestehen könnte, dass der Künstler die Geschichte ausschließlich zur Ausbildung seines eignen Geistes verwendet?

In einem Sinne müssen wir diese Frage allerdings verneinen. Denn wo wir bei den andern Typen Vorzüge erwähnen konnten, da hat fast immer neben derjenigen Stellung zur Architekturgeschichte, die wir jeweilig beschrieben, auch schon in irgendwelchem Umfange die Ausbildung des eignen Geistes durch die Geschichte stattgefunden, die wir jetzt im Auge haben und aus jenen Verschmelzungen als besondern Typus herausheben wollen. Wenn z. B. auf Grund einer Anknüpfung an eine vergangene Epoche eine Weiterbildung der betreffenden Kunst erfolgte, so war das immer nur dadurch möglich, dass wenigstens einige Elemente der zugrunde liegenden Kunst nicht bloß gewohnheitsmäßig angewendet, sondern in dem Sinne verstanden wurden, wie es zur wahren Nutzbarmachung der Geschichte im Interesse der Weiterbildung der Kunst erforderlich ist.

Die allein richtige Stellung des künstlerischen Schaffens zur Architekturgeschichte ist die, dass man sich eine historische Bildung erwirbt, sich derselben aber nicht etwa zur Anknüpfung an einen einzelnen Stil, sondern in freier Verwertung aller Zeiten und Länder nur als eines der Mittel zur Erreichung der eignen Ziele bedient. Damit die Geschichte zu einer solchen Leistung geeignet sei, muss sie allerdings schon eine bestimmte dahingehende Ausbildung erfahren haben, deren Beschreibung wir uns jetzt zuwenden wollen. Die weite Verbreitung, welche der Anknüpfungs- und Wiederbelebungstypus gefunden habt, entspringt, wie wir sehen werden, nicht zum mindesten daraus, dass uns die Architekturgeschichte zumeist noch in solcher Form vorliegt, welche eine andre Anwendung kaum gestattet.

Die Geschichtsschreibung überhaupt steht mehr oder weniger klar einer von folgenden zwei Möglichkeiten zu. Entweder kommt es dem Historiker darauf an, ganz gleich welche Mittel dazu geeignet sein mögen, ein möglichst anschauliches, individuelles Bild des Einzelnen und der einzelnen Zusammenhänge zu geben; oder er beabsichtigt, das Einzelne wie die einzelnen Zusammenhänge nicht mit jedem beliebigen Mittel, sondern nur mit solchen Begriffen zu beschreiben, welche eine Verwertung der Geschichte zu bestimmten Zwecken gestatten. Nun kann die Geschichte im Großen durch die Art ihrer Darstellung entweder nur darauf ausgehen, die Geschehnisse der Welt in allen ihren Zusammenhängen vor dem Anschauungsvermögen als reiches Material auszubreiten, oder sie kann sich das Ziel stecken, ihren Stoff nur als Verwirklichungsgebiet bestimmter wertvoller Einsichten zu verstehen. Im ersteren Falle wird der Geschichtsschreiber im bunten Wechsel alle ihm zu Gebote stehenden Mittel zur Verdeutlichung der den verschiedensten Gebieten angehörigen Verhältnisse benutzen, wie das z. B. in den gewöhnlichen Weltgeschichten gehandhabt wird. Im zweiten Falle aber liegen der Geschichtsschreibung bestimmte Wissenschaften zugrunde, aus denen die Begriffe stammen, deren sich der Historiker bedient. Das tatsächliche Verhältnis zwischen zugrunde liegender Wissenschaft und durch sie erst ermöglichter Geschichte ist häufig dadurch verdunkelt worden, dass die wissenschaftlichen Einsichten vielfach erst gelegentlich der Beschäftigung mit der Geschichte zum klaren Bewusstsein erhoben worden sind. Es braucht hier aber wohl nicht noch besonders darauf hingewiesen zu werden, dass das bloße Geschehen als solches, wie es dem Historiker vorliegt, nichts lehren könnte, wenn es nicht erst durch mehr oder weniger geeignete Begriffe aufgefasst würde.

Machen wir die Anwendung des Gesagten auf die Architekturgeschichte, so können wir einer anschaulichen Architekturgeschichte, welche den architektonischen Erscheinungen und ihren Zusammenhängen durch individuelles Nachfühlen und anschauliches Wiedergeben dem historisch Gewordenen gerecht zu werden bemüht ist, auch hier eine produktive Architekturgeschichte gegenüberstellen, welche durch sachgemäße Anwendung der Begriffe ganz bestimmter Wissenschaften die historische Erkenntnis fruchtbar zu machen strebt. Im Interesse des Technikers z. B können wir uns eine solche Geschichtsschreibung so denken, dass das Einzelne und die Entwicklung unter dem Gesichtspunkte des technischen Fortschritts oder Rückschritts mit den technischen Begriffen als technische Möglichkeit dargestellt wird. Für den Architekten als Künstler, und dieser allein interessiert uns hier, kann die Grundwissenschaft, welche die fruchtbaren Gesichtspunkte und Begriffe für die wahrhaft produktive Kunstgeschichte liefert, keine andre sein als die Ästhetik. Durch diese Feststellung wird vielen die Brauchbarkeit, ja die Möglichkeit einer produktiven Geschichtsschreibung wiederum ganz illusorisch erscheinen. Denn die bisherigen Schicksale der Ästhetik ermutigen allerdings nicht dazu, in ihr ein für diese Aufgabe auch nur einigermaßen geeignetes Instrument zu erblicken. In Wirklichkeit entsprechen aber bereits die für den ernsthaften Architekten interessantesten Partien des bisherigen Architekturgeschichte dem von uns gezeichneten Ideale. Und in der Tat ist es, worauf wir eben schon hingewiesen haben, durchaus möglich, dass man sich die für eine solche Geschichtsschreibung erforderlichen ästhetischen Gesetze, statt sie der Ästhetik selber zu entnehmen, unabhängig von dieser überhaupt erst bei der Betrachtung des historisch Gegebenen zum Bewusstsein bringt. Für die bildende Kunst hat Julius Meyer-Graefe eine „Entwicklungsgeschichte der modernen Malerei" geschrieben, die sich durch ausdrückliche Benutzung ästhetischer Gesichtspunkte so sehr als produktiv in unserm Sinne aufweist, dass wohl kein denkender Maler sie lesen wird, ohne für sein ganzes Schaffen daraus zu lernen.

Wir wollen nun die beiden Möglichkeiten, von denen wir gesprochen haben, einander im speziellen für die Architekturgeschichte nach verschiedenen Beziehungen hin gegenüberstellen. Die anschauliche Architekturgeschichte macht uns die einzelnen Werke und Zusammenhänge in der Weise verständlich, dass sie unter den mannigfachen Gesichtspunkten betrachtet, nach welchen in der Tat ihr historisches Zustandekommen erklärt werden muss. In ihr finden sich z. B. die einzelnen Werke als Träger des Geistes der Zeit, als bedingt durch politische Ereignisse und religiöse Strömungen, als im Zusammenhange mit ähnlichen Werken, von denen einzelnes entlehnt ist, und nach mannigfachen andern derartigen Rücksichten, unter ihnen gelegentlich auch den künstlerischen, in individuell anschaulicher Weise dargestellt. Eine produktive und zwar speziell für das künstlerische Schaffen produktive Geschichtsschreibung der Architektur muss demgegenüber darauf verzichten, ein allseitiges Bild der Entwicklung zu geben. Denn für letztere sind tatsächlich die genannten wirtschaftlichen und sonstigen außerkünstlerischen Bedingungen mindestens ebenso bestimmend wie die Ideale des künstlerischen Fortschritts. Nur unter diesem Gesichtspunkte aber sucht unsre produktive Architekturgeschichte ihren Gegenstand zu erfassen und darzustellen. Für den historischen Überblick im Sinne der anschaulichen Geschichtsschreibung unentbehrliche Tatsachen, wie z. B., dass infolge der Völkerwanderung die in der römischen Baukunst schlummernden Entwicklungskeime auf ein Jahrtausend unentfaltet blieben, oder dass infolge der Gegenreformation das süddeutsche Barock zu einer Entfaltung kam, die dem norddeutschen nicht beschieden war, solche Tatsachen finden in der von uns gemeinten Geschichte keine Stelle. Statt dessen strebt diese danach, die architektonischen Erscheinungen durch solche Begriffe darzustellen, welche deren ästhetisches Wesen, wie es aus dem Zusammenwirken aller Formen und Beziehungen resultiert, enthüllen, desgleichen ihre Stellung in der Stufenleiter der ästhetischen Möglichkeiten, ihre Vorläufer und Nachfolger in der künstlerischen Problemstellung, ihre Verwandtschaft oder Feindschaft gegenüber wichtigen ästhetischen Tendenzen und ähnliches mehr. Man kann irgendwelche historische Komplexe herausgreifen, um ein Beispiel von einer derartigen Geschichtsschreibung zu erhalten.

 

So ist im griechischen Tempel durch die Stufen, auf denen er steht, ein befriedigender Übergang von dem hin gelagerten Erdboden zu dem emporsteigenden Tempel geschaffen. Würde dies Zwischenglied fehlen, so entstände eine ästhetische Härte, weil kein gestalteter Ausdruck dafür vorhanden wäre, dass der Tempel sich über das Erdreich erhebt. Dasselbe ästhetische Prinzip, das hier waltet, wurde erst zwei Jahrtausende später auf dem parallelen und nur durch die äußerliche Orientierung im Raum unterschiedenen Fall angewandt, das eine Aedicula als Umrahmung einer Öffnung vor die Wand gesetzt wird. Auch hier gelang es dem Barock, durch Einschiebung eines oder mehrerer Glieder zwischen der Aedicula und der Wand das Heraustreten der Sonderform aus der Rücklage künstlerisch zu gestalten, während bis dahin, wie z. B. bei der Renaissance, dies Verhältnis als ungelöst zu betrachten ist, da die Aedicula dort in die Rücklage so einschneidet, als wäre diese aus Butter. Entsprechend kann man durch die Überblickung möglichst vieler ästhetischer Zusammenhänge ein immer klareres und fruchtbareres Bild der barocken Fensterumrahmungen und so überhaupt der historischen Stoffe entrollen. Solcher Art müssten die Darstellungen sein, aus denen eine wahrhaft produktive Geschichtsschreibung zu bestehen hätte.

 

III.

Man kann auch z B. in unserm Falle für die künstlerische Gestaltung irgendeiner beliebigen Form, die vor eine andre tritt, aus der Geschichte lernen. Und nicht etwa bloß in der Weise wird die Geschichte fruchtbar, dass man sich nun bewogen fühlte, jedes Mal eine Zwischenform einzuschieben, sondern das Beispiel eines sich aus schmaler Gasse über das Häusermeer erhebenden gotischen Domes schlägt sofort eine neue Möglichkeit an, welche sich gleichfalls, wenn sie nur mit den richtigen ästhetischen Begriffen aufgefasst wird, fruchtbar machen lässt, indem z. B. neben der Aedicula eine Wandvertiefung angeordnet wird. Durch Erfassung der Prinzipien kann man dann diese Möglichkeiten um beliebige weitere vermehren. Entsprechend erweist sich die Geschichte für fast alle architektonischen Probleme als Lehrmeisterin. Es kommt schließlich nur darauf an, sie richtig befragen zu lernen. Allerdings verhält sie sich dabei auch wie ein guter Lehrer, der den Schüler nur eine Strecke weit führt und ihn dann seine Aufgabe selbständig lösen lässt. Diesem Tatbestand gerecht werdend, soll man nicht so sehr danach streben, sich möglichst viele geschichtliche Kenntnisse anzueignen, sondern vor allen Dingen die einzelnen Erscheinungen auf diese Weise zu verstehen lernen.

Für die anschauliche Architekturgeschichte hat eine architektonische Erscheinung um so mehr Interesse, je mehr Einfluss sie innerhalb der historischen Entwicklung gehabt hat, je mehr Architekten sich dem einen Vorbilde angeschlossen haben. Denn hierdurch erhält sie für das Bild, das wir uns von dem Schaffen einer Epoche machen müssen, eine große Wichtigkeit. Für die produktive Architekturgeschichte hingegen wird ein Bauwerk oder eine Entwicklung nur dadurch bedeutsam, dass es bestimmte ästhetisch wichtige Möglichkeiten verkörpert, dass es, um uns einer Betrachtungsweise der andern weiter vorgeschrittenen Zweige der Kunstgeschichte zu bedienen, eine kunsttechnische Erfindung darstellt, mag diese nun fortgewirkt haben oder bisher ohne Nachfolge geblieben sein. Interessiert den Historiker der ersten Art, bis zu welchen Verzweigungen hin sich die Nachwirkungen des Schaffans eines Architekten, eines Stils, erstrecken, so beschäftigt es den der zweiten, was der Architekt künstlerisch gewollt hat, inwieweit er es verwirklicht hat, welche Kunstmittel er dazu verwandte und wie tauglich oder untauglich diese dazu waren, wie seine Sprache von diesem oder jenem Spätern weitergebildet oder überwunden wurde. So wird eine solche Geschichtsschreibung auch in dem Sinne fruchtbar, dass der Schaffende, der irgendeine Form der Vergangenheit zu verwerten gedenkt, dazu gezwungen wird, sich mit den bereits erfolgten Vervollkommnungen dieser Form auseinanderzusetzen und dann auch diese zu benutzen, zu überbieten oder bewusst auf sie zu verzichten. Kurz, es stehen hier einander zwei Richtungen gegenüber, von denen die letztere, die produktive, gerade das beschreibt und zusammenfasst, was der heutige Architekt auch auf sich anwenden kann, und alles als künstlerisches Wollen, Handeln, Erreichen, Erfinden, als Mittel zum künstlerischen Zweck darstellt, während die erstere dem Architekten als Künstler noch gar nichts sagt und sich ohne technisch korrekte Entwirrung des Zusammenspiels ästhetischer Kräfte auf diesem wichtigsten Gebiete ihrer Natur nach mit nur wenigen Hinweisen begnügen muss. Mag nun die anschauliche Geschichtsschreibung für den Laien die willkommene Einführung in die ihm ihrem innersten Wesen nach doch ewig verschlossene architektonische Welt gewähren, für den schaffenden Künstler ist allein die produktive Geschichtsschreibung, wie wir sie ihren Grundzügen nach entwickelt haben, das brauchbare Instrument zur Fruchtbarmachung der Erscheinungen der Vergangenheit. Die Irrtümer des Anknüpfungs- und Wiederbelebungstypus bestehen gerade darin, dass sie sich von den Bildern, welche die ansehnliche Geschichtsschreibung ihnen zuführte, beeinflussen ließen. Einzig der dem vierten Typus folgende Architekt lernt die Werke der Vergangenheit in der Weise verstehen, dass er die Kämpfe, die Irrtümer und Triumphe der alten Meister, wie Schicksale von Kollegen oder von sich selber nachfühlen kann, da er an ihren Werken, seinen eignen Zielen entsprechend, allein das auffasst, was sich als ein Produkt ästhetischer Kräfte darstellt, nicht aber das, was nur aus zufälligen historischen Umständen und menschlichen Unvollkommenheiten entsprungen ist.

Wir müssen noch kurz darauf hinweisen, dass wir mit den beiden von uns aufgestellten Möglichkeiten der Geschichtsschreibung ebenso mit unsern Typen immer nur Prinzipien haben treffen wollen. In Wirklichkeit hat eine vorwiegend nach der einen verfahrenden Geschichtsschreibung immer auch bis zu einem gewissen Grade Anteil an der andern. Es ist ja aber auch keine fruchtbare Aufgabe, die Bilanz von Wert und Unwert einzelner Geschichtsbücher zu ziehen. Fruchtbar ist immer nur das Erfassen der Prinzipien. Doch wollen wir nicht unerwähnt lassen, dass vor allem Cornelius Gurlitt und Heinrich Woelfflin Beispiele produktiver Architekturgeschichte gegeben haben, freilich noch nicht in der Vollkommenheit und besonders nicht in der fortgeschrittenen modernen Auffassung wie für die bildende Kunst Julius Meyer- Graefe.

Statt, wie wir vorhatten, eine Beschreibung desjenigen Verhältnisses des künstlerischen Schaffens zur Architekturgeschichte zu geben, welches in der freien Verwertung der letztern für die Intentionen des Schaffenden besteht, haben wir in dem Voranstehenden bisher nur eine Beschreibung der Art der Geschichte geliefert, welche sich allein als zu diesem Zwecke brauchbar erweist und zu welcher schon Beiträge genug überall zu finden sind. Ist eine solche Geschichtsschreibung, ja auch nur die Idee einer solchen, einmal gegeben, dann bietet ihre Fruchtbarmachung zur Ausbildung des eignen Geistes kein wesentliches Problem mehr. Wem einmal diese Auffassungsweise des Historischen zur eignen Geistesrichtung geworden ist, der wird auch ohne Hilfe des Historikers die einzelne Erscheinung für sich fruchtbar zu machen imstande sein. Ihm wird nie eine Frage wie die, an welchem Stil er anzuknüpfen habe oder ob er im gotischen oder im Renaissance-Sinne bauen solle, ernstliche Schwierigkeiten bereiten. Denn weder das Empire noch irgendein andrer Stil vermag ihn als geschlossene historische Geistesmacht zu düpieren, da er als Künstler in jeder Architektur nur ästhetische Probleme und deren Lösungsversuche auffasst, denen er eigne Probleme und eigne Lösungsversuche entgegenzusetzen hat.

Wer aber zunächst keinen solchen Besitz in sich spürt, der verfälsche nicht die Kunst durch Surrogate wie Anknüpfung und Wiederbelebung, sondern gehe wie beim Neuschaffungstypus vom nackten Bedürfnis aus. So roh und jedes künstlerischen Fühlens bar ist niemand, dass er sich nicht gedrängt fühlte, dem bloßen Nutzbau nach irgendwelchen Richtungen eine Gestaltung, wie sie ihm selber schöner scheint, zu geben. Dieser künstlerischen Notwendigkeiten werde er sich bewusst und vergleiche dann die ihm von sich aus vor die Phantasie tretenden Gestaltungsformen, über den Neuschaffungstypus, der sich nicht belehren lassen will, ganz hinausgehend, mit den Lösungen, die ihm die produktive Architekturgeschichte für die gleichen Probleme überliefert und nach ihrer ästhetischen Bedeutung auseinandersetzt. In einer solchen Stellung zum künstlerischen Schaffen des Architekten ist die Architekturgeschichte kein Danaergeschenk mehr, sondern sie gewährt dem Schaffenden eine Befreiung von dem Zufälligen, in das er hineingeboren und -erzogen ist, und eine Bereicherung über die Enge des eignen Vermögens hinaus, wenn er, von den Zwecken, die ihm das Leben diktiert, ausgehend, die Kunstwerte verwirklicht, denen er als Künstler Gestalt zu geben berufen ist.