erschienen
in: Le Figaro, Paris, 20. Februar 1909
1.
Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und
Verwegenheit.
2.
Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein.
3.
Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und
den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die
fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und
den Faustschlag.
4.
Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit
bereichert hat:
die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen,
dessen Karosserie große
Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen . .. ein
aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike
von Samothrake.
5.
Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde
durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.
6.
Der Dichter muß sich glühend, glanzvoll und freigebig verschwenden, um die
leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren.
7.
Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann
kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefaßt werden als ein heftiger
Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor dem Menschen zu
beugen.
8.
Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! ... Warum sollten
wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des
Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben
bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige
Geschwindigkeit erschaffen.
9.
Wir wollen den Krieg verherrlichen — diese einzige Hygiene der Welt -, den
Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen
Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.
10.
Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören
und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die
auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.
11.
Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen
oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut
der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche,
vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden
erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen
verzehren; die
Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen;
die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der
Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont
wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit
Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitenden Flug der
Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu
klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.
Von
Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender
Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den Futurismus gründen, denn wir
wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen,
Fremdenführer und Antiquare befreien.
Schon
zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen
Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken.
Museen;
Friedhöfe! . .. Wahrlich identisch in dem unheilvollen Durcheinander von vielen
Körpern, die einander nicht kennen. Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen
man für immer neben verhaßten oder unbekannten Wesen schläft! Museen:
absurde
Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig wild mit Farben und
Linien entlang der umkämpften Ausstellungswände abschlachten!
Einmal
im Jahr mögt ihr dahin pilgern, wie man zu Allerseelen auf den Friedhof geht .
. . das gestatte ich euch. Einmal im Jahr mögt ihr einen Blumenstrauß vor der
Mona Lisa niederlegen, . . . das gestatte ich euch . . . Aber ich lasse nicht
zu, daß man täglich in den Museen unser kümmerliches Dasein, unseren
gebrechlichen Mut und unsere krankhafte Unruhe spazieren führt. Warum will man
sich vergiften? Warum will man verfaulen?
Und
was kann man auf einem alten Bilde schon anderes sehen als die mühseligen
Verrenkungen des Künstlers, der sich abmühte, die unüberwindbaren Schranken
zu durchbrechen, die sich seinem Wunsch entgegenstellen, seinen Traum voll und
ganz zu verwirklichen? . . . Ein altes Bild bewundern, heißt, unsere Sensibilität
in eine Aschenurne schütten, anstatt sie weit und kräftig ausstrahlen zu
lassen in Schöpfung und Tat.
Wollt
ihr denn eure besten Kräfte in dieser ewigen und unnützen Bewunderung der
Vergangenheit vergeuden, aus der ihr schließlich erschöpft, ärmer und
geschlagen hervorgehen werdet?
Wahrlich,
ich erkläre euch, daß der tägliche Besuch von Museen, Bibliotheken und
Akademien (diesen Friedhöfen vergeblicher Anstrengungen, diesen Kalvarienbergen
gekreuzigter Träume, diesen Registern gebrochenen Schwunges) für die Künstler
ebenso schädlich ist wie eine zu lange Vormundschaft der Eltern für manche Jünglinge,
die ihr Genie und ihr ehrgeiziger Wille trunken machen. Für die Sterbenden, für
die Kranken, für die Gefangenen mag das angehen: — die bewundernswürdige
Vergangenheit ist vielleicht ein Balsam für ihre Leiden, da ihnen die Zukunft
versperrt ist ... Aber wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir
jungen und starken Futuristen!
Mögen
also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern kommen! Hier! Da
sind sie! ... Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! . .. Leitet den
Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! ... Oh, welche Freude, auf
dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu
sehen! ... Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt
nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!
Die
Ältesten von uns sind jetzt dreißig Jahre alt; es bleibt uns also mindestens
ein Jahrzehnt, um unser Werk zu vollbringen. Wenn wir vierzig sind, mögen
andere, jüngere und tüchtigere Männer uns ruhig wie nutzlose Manuskripte in
den Papierkorb werfen. Wir wünschen es so!
Unsere Nachfolger werden uns entgegentreten; von weither werden sie kommen, von allen Seiten, sie werden auf dem beflügelten Rhythmus ihrer ersten Gesänge tanzen, ihre gebogenen Raubvögelkrallen werden sie ausstrecken, und an den Türen der Akademien werden sie wie Hunde den guten Geruch unseres verwesenden Geistes wittern, der bereits den Katakomben der Bibliotheken geweiht ist.
Aber
wir werden nicht da sein! . . . Sie werden uns schließlich finden - in einer
Winternacht - auf offenem Feld, unter einem traurigen Hangar, auf den ein eintöniger
Regen trommelt, sie werden uns neben unseren Flugzeugen hocken sehen, zitternd
und bemüht sein, uns an dem kümmerlichen kleinen Feuer zu wärmen, das unsere
Bücher von heute geben, die unter dem Flug unserer Bilder auflodern. Sie werden
uns alle lärmend umringen, vor Angst und Bosheit keuchend, und werden sich,
durch unsere stolze, unermüdliche Kühnheit erbittert, auf uns stürzen, um uns
zu töten, und der Haß, der sie treibt, wird unversöhnlich sein, weil ihre
Herzen voll von Liebe und Bewunderung für uns sind.
Die starke und gesunde Ungerechtigkeit wird hell aus ihren Augen strahlen. Denn Kunst kann nur Heftigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit sein. Die Ältesten von uns sind dreißig Jahre alt: trotzdem haben wir bereits Schätze verschleudert, tausend Schätze an Kraft, Liebe, Kühnheit, List und rauhem Willen; ungeduldig haben wir sie weggeworfen, in Hast, ohne zu zählen, ohne je zu zögern, ohne uns je auszuruhen, ohne Atem zu schöpfen ... Schaut uns an! Noch sind wir nicht außer Atem! Unsere Herzen kennen noch keine Müdigkeit, denn Feuer, Haß und Geschwindigkeit nähren sie! ... Das wundert euch? . . . Das ist logisch, denn ihr erinnert euch ja nicht einmal daran, gelebt zu haben! Aufrecht auf dem Gipfel der Welt, schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!
Ihr
macht Einwendungen? . . . Genug! Genug! Die kennen wir . . . Wir haben
begriffen! ... Unsere schöne, verlogene Intelligenz sagt uns, daß wir der
Abschluß und der Neubeginn unserer Ahnen sind. - Vielleicht! ... Es sei! ...
Was schadet es denn? Wir wollen nichts begreifen! . . . Wehe dem, der uns diese
infamen Worte noch einmal sagt! . .. Kopf hoch! . . .
Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu! ...
Filippo Tommaso Marinetti: Die drahtlose Einbildungskraft (1913)
"Der Futurismus gründet sich auf die vollständige Erneuerung der menschlichen Sensibilität als Folge der großen Entdeckungen [...] Diejenigen, welche heutzutage Dinge benutzen wie Telephon, Grammophon, Eisenbahn, Fahrrad, Motorrad, Ozeandampfer, Luftschiff, Flugzeug, Kinematograph und große Tageszeitungen, denken nicht daran, daß diese verschiedenen Kommunikations-, Verkehrs- und Informationsformen auch entscheidenden Einfluß auf ihre Psyche ausüben."